Review: Lygo - Lygophobie
Label: Kidnap Music |
Ich war vor 10-15 Jahren ein großer Fan der neuen, deutschen Emo-/Indie-Punk-Welle rund um CAPTAIN PLANET, MATULA, MIKROKOSMOS23, FREIBURG, ADOLAR, LOVE A und wie sie nicht alle heißen. Als diese Welle schon am abebben war, spülte sie mit LYGO doch noch einen Schatz ans Ufer. Ihr Video zu "Störche" hinterließ bleibenden Eindruck und trieb die Erwartungen für das Debütalbum ins Unermessliche. So gut war "Sturzflug" dann doch nicht, was aber wenig heißt, schließlich ist "Störche" ein unzerstörbarer Klassiker. Das 2014er-Werk der Bonner war keine Revolution, doch die Band schuf sich ihren eigenen Platz und das ohne, dass man ein Label im Rücken hatte. Der Deal mit Kidnap Music kam erst 2015 zustande.
Es folgten die "Misere"-EP, ein weiteres Album namens "Schwerkraft", eine Auszeit und die Pandemie. Und nun sind sie zurück, als eine der wenigen überlebenden Bands, der damaligen Bewegung. Vielleicht schätze ich diese Rückkehr deshalb so sehr?! "Lygophobie" heißt das neue Album und wie gewohnt erhielt es wieder einige Vorboten in Form von Videos. Ich habe in dieser Hinsicht jedoch meinen persönlichen Tick und habe mir die 3 vorab veröffentlichten Songs jeweils nur einmal angehört, um dem Album die Chance zu geben als Album zu wachsen. Und ich denke, das tat es.
LYGO hatten mit "Sturzflug" schon einen derart definierten, überraschend sicheren und in Teilen auch markanten Sound, dass es nicht verwunderlich war, dass sie die Jahre darauf daran festgehalten haben. Es wäre nun schwer gelogen, wenn man behaupten würde, dass Album Nummer 3 vor Innovationen nur so strotzt. LYGO sind LYGO und das bleiben sie auch. Und das ist gut so. Das Trio wurde jedoch reifer, drehte an ein paar Schrauben rum und veröffentlichte mit "Lygophobie" nun musikalisch wie textlich ihr bisher bestes Album.
Um es oberflächlich auf den Punkt zu bringen: Weniger Punk, mehr Melodie. Natürlich gibt es weiterhin den leidenschaftlichen Schrei-Gesang von Simon, die liebgewonnenen gedoppelten Vocals, die angriffslustigen Parts und ein durchwegs schnelles Tempo. Dazwischen räumt das Trio der Melodie diesmal immer mehr Platz ein. Das fühlt sich wie eine natürliche Entwicklung an, klingt nicht aufgesetzt, sondern sehr elegant und gibt dem Stil der Band eine weitere Facette. Die atmosphärischen Gitarren wie in "Schockstarre" und "Warmes Bier & Kalter Kaffee", der fast schon emo-mäßige Beginn von "Uwe, Erdgeschoss links" oder die gefühlsvollen Strophen von "Kommentarspalte" geben der Platte eine weitere Ebene, während Stücke wie "Zusammen im Bett" oder "Auf deine Bitte" schon sehr viel Indie-Rock-Flair versprühen. Es ist jedoch nicht so, dass LYGO plötzlich auf balladesken Pfaden rumlatschen, im Gegenteil! Sie verbinden diese teils neuen, teils verstärken Elemente mit all' ihren alten Trademarks und treten weiterhin Ärsche. Es ist nicht so, dass das ungelenk und einstudiert rüberkommt. Die wissen schon was sie da machen!
Ich will nun nicht pseudo-intellektuell auf die einzelnen Lyrics eingehen, außerdem würde das den nicht vorhandenen Rahmen sprengen, doch nur so viel: Das ist gewohnt authentisch. Es ist zeitrelevant. Und es ist vollgestopft mit hängenbleibenden Textfetzen. Wie gewohnt finden die Bonner die perfekte Schnittmenge aus Bauch, Herz und Kopf. Noch nie konnte ich mich persönlich so mit ihren Texten identifizieren, ja, da ist vieles dabei, dass ordentlich Nachdruck hat. Etwa "Schockstarre", "Uwe, Erdgeschoss links", "Kommentarspalte" und das überragende "Warmes Bier & Kalter Kaffee". Das ist dunkel und depressiv, aber meist lebensbejahend.
Auch wenn jetzt vieles so rüberkam, als ob der LYGO-Backkatalog nichts taugt, muss ich trotzdem nochmal betonen: "Lygophobie" ist ein großer Sprung nach vorne für die Bonner! Musikalisch klang das bei ihnen noch nie so versiert, textlich ging das noch nie so tief. Zudem hatte man noch nie so viele lupenreine Kracher auf einer Platte, das wunderschöne "Warmes Bier & Kalter Kaffee" stößt "Störche" endgültig vom Thron und ja, überhaupt ist die Tracklist saudicht. Mit den neuen Elementen im Sound reißt man zudem die eigene, größte Angriffsfläche der Vergangenheit ein, denn bei den Platten davor ähnelten sich viele Songs doch sehr stark.
"Lygophobie" ist ein großartiges Album geworden, dass sich bei den besten Platten dieser Richtung einordnet und wegen der kaum mehr vorhandenen Alternativen heute noch mehr glänzt, als es das vor 10 Jahren getan hätte.
Rating: 8.5 von 10
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